Brasilien - Senna.
Brasilien verehrt Ayrton Senna als
Halbgott
Sao Paulo - Tränen kullern über die
Wangen von Viviane, als sie dem wildfremden Journalisten von
Ayrton Senna erzählt. Zehn Jahre nach seinem Unfalltod weckt der
legendäre Formel-1-Pilot in seinem Heimatland Brasilien nicht nur
bei der Schwester tiefe Emotionen. «Er ist für uns ein Halbgott»,
schrieb das Magazin «Istoe». Fernseh- Sportjournalist Galvao Bueno
meint, dass weder «Fußball-König» Pele noch dessen Nachfolger
Ronaldo vom Volk derart idolisiert werden wie der schmächtige und
schüchterne, aber wagemutige Senna.
Wer einen Beweis sucht, der findet ihn
auf dem Friedhof Morumbi in Sao Paulo. Das Senna-Grab ist ein
Wallfahrtsort. «Oft kommen ganze Schulklassen oder Touristengruppen,
auch aus dem Ausland», sagt Friedhofschef Francisco Mattos. Besucher
weinen, hinterlegen viele Blumen, brasilianische Fahnen. Die
50-jährige Frührentnerin Solange kommt alle 14 Tage, um den
Gedenkstein am Fuß des Rosa Trompetenbaums zu putzen. «Formel 1
interessiert mich nicht mehr. Ich habe aber von den Tricks gehört,
damit dieser Schumacher immer siegt», sagt sie.
In unmittelbarer Nähe des Friedhofs
machen Ladenbesitzer mit Senna-Produkten tolle Geschäfte. So wie
Sonia Barbosa, die Fotos, Schlüsselanhänger, Bilderrahmen,
Rennfahrer-Helme und -Anzüge für Kinder, Broschen und T-Shirts mit
Senna-Bildern verkauft. Ein Helm wird vom zwölfjährigen Ayrton Senna
gekauft, der - wie viele Jungen seiner Generation - nach dem
dreifachen Weltmeister getauft wurde.
Weshalb ist Senna so beliebt, dass
sogar Kinder, die ihn nie fahren sahen, ihn als Idol bezeichnen?
«Brasilien hatte nie eine richtige Mythos-Figur. Die Volksseele
schrie danach, und Senna nahm diesen leeren Platz ein», erklärt
Psychologin Denise Ramos von der Katholischen Universität Sao
Paulo.
«Wir Brasilianer haben uns immer für
schlechter gehalten, Senna war die Antwort auf unser
schwaches Selbstvertrauen», meint auch der Psychiater Fabio
Herrmann. In einer Zeit, in der die Fußball- Nationalelf seit über
20 Jahren keinen WM-Titel mehr gewonnen hatte und ein korrupter
Präsident im Regierungspalast saß, «impfte Senna uns jeden Sonntag
Mut für die kommende Woche ein», meint «Istoe». «Mein Bruder ist
wegen seiner Entschlossenheit, seiner Hingabe und seines
Kampfgeistes zehn Jahre nach seinem Tod auch ein Vorbild der neuen
Generationen, die ihn nur per DVD sahen», sagt Viviane.
Senna lebt heute nicht nur in den Herzen
seiner Landsleute, auf Straßenschildern oder im Museum der
«Fangruppe Ayrton Senna» (TAS) in Sao Paulo weiter. Die 46-jährige
gelernte Psychologin Viviane verwirklicht als Leiterin des «Instituto
Ayrton Senna» (IAS) eine Idee, die der Pilot zwei Monate vor seinem
Tod hatte. Heute ist das IAS eines der erfolgreichsten
Sozialprogramme Brasiliens. In zehn Jahren wurden im Bereich Bildung
und Sport fast vier Millionen Kinder armer Familien betreut.
Investiert wurden mehrere 40 Millionen Euro.
Am Image des Idols konnte selbst eine
Biografie nicht kratzen, die Senna in einem anderen Licht
darstellt. Das Buch des Journalisten Ernesto Rodrigues erinnert an
Homosexualitätsvorwürfe durch Landsmann und Pistenrivale Nelson
Piquet sowie an die unsportliche Aktion, mit der Senna 1990 in Japan
Alain Prost von der Piste und aus dem Kampf um den WM-Titel schoss.
Auch den Gerüchten, Senna könnte am
tragischen 1. Mai 1994 in Imola Selbstmord oder zumindest einen
schweren Fahrfehler begangen haben, gibt das Buch neue Nahrung. Kurz
vor dem Rennen habe der Williams-Fahrer von Bruder Leonardo
erfahren, dass seine Freundin Adriane Galisteu (heute ein gefragter
TV-Star) ihn betrogen habe. Zudem erzählt Ayrtons Ex-Ehefrau Lilian:
«Vor Rennen schliefen wir in verschiedenen Räumen.» Die Ehe hielt
1981 acht Monate. Senna, so das Buch, habe sich weder für Bücher,
Konzerte oder einen guten Wein interessiert. Er habe sich aber
betrunken, wenn er euphorisch oder deprimiert gewesen sei.
Senna gewann die WM-Titel 1988, 1990 und 1991
und siegte bei 41 seiner 161 Grand-Prix-Rennen. Bis auf die 65 Pole
Positions wurden alle Rekorde des Brasilianers von Michael
Schumacher übertroffen. «Mehr Duelle mit Schumacher wären
fantastisch gewesen», sagt Viviane. Die Erfolge des Deutschen
könnten nicht in Frage gestellt werden. «Aber Ayrton hatte die
Fähigkeit, seine Grenzen ständig zu sprengen.»
Dass die Justiz Italiens die
Untersuchung des Unfalls von Imola wieder aufnehmen will,
interessiert Viviane und ihre Familie «überhaupt nicht». «Das bringt
Ayrton nicht zurück», sagt sie leise. |